Januar 2020

Eines Tages bin ich abgehauen

„Als ich zehn Jahre alt war, starb meine Mutter. Sie war auf einmal sehr erschöpft, hatte keine Kräfte mehr und blieb nur noch im Haus. Auf einmal war sie tot. Keiner wusste, was sie hatte, keiner konnte helfen. Mein kleiner Bruder ist auch gestorben. Und meine kleine Schwester.

Zwei Mal habe ich als Kind von meiner Mutter geträumt. Sie stand vor mir in diesem Traum, groß, sie sah aus wie früher. Dann bin ich aufgewacht und hatte Angst: vor der Dunkelheit, vor meinem Zimmer. Das mit der Angst hat zugenommen. Ich fürchte ich mich vor anderen Menschen. Wenn sich mir jemand nähert, denke ich: Jetzt nimmt er gleich etwas in die Hand und schlägt mich damit, tötet mich. Dann renne ich weg und verstecke mich.

Als ich alt genug war, schickte mich mein Vater zu einem Schneider in die Lehre. Nach zwei Jahren holte er mich dort wieder ab, kaufte mir eine Nähmaschine und sagte: arbeite! Zehn Jahre habe ich als Schneider gearbeitet. Im elften Jahr wurde ich krank. Aber ich habe es nicht gemerkt. Ich hatte immer diese Stimmen im Kopf, die mir sagten, was ich tun sollte. Ich hörte sie, sah sie aber nicht. Nachts konnte ich nicht schlafen, weil sie ständig redeten. Manchmal war es die Stimme eines Freundes, manchmal die von Gott, manchmal die eines Dämons. Meistens sagten sie: „Du musst weggehen von hier, mach dich auf den Weg!“

Ich lief viel umher. Kaum war ich irgendwo angekommen, sagten sie mir wieder: „Los, verschwinde!“ Ich ging unentwegt spazieren. Das half ein bisschen. Aber sie kamen wieder.

Eines Tages bin ich abgehauen. Ich ließ das Dorf hinter mir, in dem ich wohnte – und landete auf der Straße. Ein Militärkommandant fand mich dort und erzählte meinem Vater von St. Camille. Er sagte, dass ich in diesem Zentrum geheilt werden könnte. Doch mein Vater nahm die Krankheit nicht ernst. Der Kommandant brachte mich selbst nach St. Camille. Ich habe ihn nie wieder gesehen.

Früher habe ich den Menschen, die ich traf, gesagt, sie sollen sich von mir fernhalten. Das mache ich heute nicht mehr. Inzwischen bin ich seit zehn Jahren im Zentrum. Jeden Tag nehme ich Tabletten. Ich fürchte mich vor manchen Männern. Aber ich habe auch Freunde. Ich darf auf dem Feld arbeiten und nähe Kleider für die anderen. Und ich warte, dass mein Vater kommt, und mich abholt, wie er es versprochen hat. Ich warte jeden Tag, jeden Moment – seit zehn Jahren.“

Toure Penawelefa, 36 Jahre

Foto: Uli Reinhardt/Zeitenspiegel

14.01.2020
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